Dienstag, 12. Januar 2016

Urlaub im Präteritum.

Er zog langsam an seiner Zigarette. Seine Lippen umschlossen den Filter, schmal und blass, leicht aufgesprungen. Seine Wangen waren leicht rot. Er hatte sich wohl schon etwas länger nicht mehr rasiert. Einige Härchen an seinem Kinn wurden langsam grau. Auch sein Haupthaar war durchzogen von leichten silbernen Streifen. Sie funkelten. Der Tag war sonnig, ich hatte ihn spontan angerufen um mich mit ihm zu treffen. 
Da saßen wir nun. In unserem kleinen Lieblingscafé nahe des Stadtparks. Die Kirschbäume blühten in sattem Rosa, unter ihnen suchten Passanten bei einem guten Buch Ruhe und Zeit für sich. Seit meinem letzten Besuch schienen Jahre vergangen zu sein, ich erkannte die Umgebung kaum wieder. Der Brunnen im Park war saniert sichtlich worden, das Trottoir neu gepflastert, auch die Sitzbänke wurden umgetauscht. Ich dachte mit Wehmut an die Zeit, in der ich durch diesen Park spaziert war, zwischen fallenden Blütenblättern und bunten Osterglocken. Ich glaube, ich war damals glücklich. Auch wenn ich meist alleine durch die leeren Straßen der Stadt wanderte, ich wusste immer genau, an welcher Tür ich klingeln musste, brauchte ich eine starke Schulter und ein großes Glas Rotwein. Diese leichtherzige Zeit war nun vorbei. 
"Wie läuft es mit diesem Rechtsanwalt?", fragte er, bemüht die Frage beiläufig zu gestalten. Ich hörte es sofort an seinem Tonfall.
"Gut... Gut, wir... wir sehen uns gerade nach einer Eigentumswohnung um. Es... es wird bald zu eng für uns...", stammelte ich. Es fiel mir schwer, mich ihm zu stellen. Aber ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Im Moment brachte ich aber noch nicht den Mut auf, meine Worte klar an ihn zu richten. Ich wollte schnell von mir ablenken. Er stierte auf seine Tasse, zog die Lippen zusammen, nickte gedankenverloren.
"Wie geht es Theresa?", fragte ich enthusiastisch.
"Wir sind schon länger nicht mehr zusammen", antwortete er trocken. Er nippte an seinem Cappuccino. Unwillkürlich musste ich ihn erstaunt angesehen haben. "Das hat dir dein kleiner Spion wohl nicht erzählt?" 
Eine bedrückte Pause folgte.
"Wir wollten es auch nicht an die große Glocke hängen... Hör' auf, deinen Kopf so fallen zu lassen und mich von unten herauf anzusehen, das macht mich wahnsinnig!"
Ich bemerkte erst jetzt, dass ich meine übliche, gespielte Empathie-Pose eingenommen hatte. Eigentlich war ich nur starr dagesessen, hatte meine heiße Schokolade umgerührt und mit geistiger Abwesenheit geglänzt. Ein leichtes Lächeln konnte ich mir dennoch nicht verkneifen.
"Was hat es mit diesem blöden Lächeln auf sich?" Er wirkte genervt, seine Stimme wurde dunkler. "Ich habe dir schon oft genug gesagt, dass sich meine Meinung nicht ändern wird! Akzeptier' das doch einfach! Warum wolltest du dich überhaupt treffen, sind die Fronten denn nicht längst geklärt?! Gott, ich habe keine Lust mir deine Vorwürfe anzuhören!" 
Mit einem lauten Ruck stand er auf, fasste in die Innentasche seiner Jacke, zog sein Portemonnaie heraus und warf mir einen Fünf-Euro-Schein entgegen. 
"Ich hatte gehofft, du willst sie vielleicht doch kennen lernen..." Meine Stimme war brüchig. Ich senkte den Blick, beugte mich mühevoll zu meiner Handtasche hinunter und kramte darin herum. 
"Ich hab' hier was für dich!" Als ich meine Lider wieder hob und die Worte sprach, bemerkte ich, dass er schon bei der Tür war. Er hatte sich einfach abgewandt, war gegangen ohne sich zu verabschieden, hatte mir den Rücken gekehrt und verschwand somit endgültig aus meinem Leben. Ich umklammerte das rauschige Schwarzweißbild. So sehr ich es mir auch wünschte, ich konnte darin nichts erkennen. Ich wollte darin eine Zukunft erkennen. Doch ich sah darin nur Vergangenheit. Ich sah in ihr nur ihn.

Sonntag, 10. Januar 2016

Eine neue Handtasche.

Die Stufen ächzten angestrengt unter ihren schnellen Schritten. "Im Treppenhaus wird nicht gerannt!", schallte es ihr aus Appartement 6F entgegen. Aber dieses Mal war ihr die Rüge der alten Nachbarin egal, sie musste sich beeilen. 
Sie hatte den markanten roten Corsa einen Block weiter gesehen, er war unverkennbar, die Seitenspiegel waren schwarz gestrichen, die billigen Felgen wurden von einem Smiley verziert. Nach Lächeln war ihr allerdings nicht zu mute. Das Auto war gute drei Blocks von ihrem Appartement entfernt geparkt worden, unter einer alten Eiche, zwischen einem Transporter und einem schwarzen Kombi. Der Parkplatz lag etwas abseits und nicht auf ihrem normalen Weg von der Arbeit nach Hause. Sie hatten wohl gehofft, dort würde der Wagen weniger auffallen, Rita würde ihn gar nicht sehen, doch an leicht regnerischen Tagen wie diesem ging sie gerne ein paar Umwege um die frische Luft zu genießen. Als sie den Corsa erblickt hatte, stand ihre Welt ein paar Sekunden still. Dann fing sie an, zu rennen.
Hastig kramte sie ihre Schlüssel aus ihrer Prada-Tasche hervor. Das Designerstück war ein Geschenk gewesen, für den letzten Zwischenfall. Sie zitterte, traf kaum das Schlüsselloch. "Bitte, bitte erspar' mir diesen Anblick. Ich ertrage es nicht noch einmal. Es ist bestimmt alles nur Einbildung...", flüsterte sie sich zu. Wollte sie sich so Mut machen? Wusste sie denn nicht genau, was sich abspielte?
Das Quietschen war unüberhörbar. Nachdem sie die Tür knirschend geöffnet hatte, kam ihr leichter Sonnenschein entgegen, draußen klarte es auf. Ihr Blick haftete am Boden. Im silbrigen Licht der schwachen Novembersonne zeichneten sich verschwommen Schatten auf dem staubigen Laminatboden ab. Sie hob ihre Lider. 
Das Schlafzimmer war offen. Mit leisen Schritten ging sie zaghaft darauf zu. Sie zitterte immer noch. Ihr stockte der Atem. Ein kurzes Hinsehen war mehr als sie verarbeiten konnte. 
Da kniete sie, auf ihrem Bett, in ihrer dunkelblauen Satin-Bettwäsche, ihre Haut blass und rein. Er stand vor ihr. Sie sahen sich tief in die Augen, ihr Mund stand offen, sie waren fast fertig. Ihre Wimpern schlugen lange Schatten auf ihre Wange, sie lächelte leicht, spielte mit ihren Lippen gekonnt an seiner Männlichkeit.
Ritas Zunge klebte an ihrem Gaumen fest, sie konnte kaum schlucken. Ein tiefes Einatmen später wandte sie sich ab, mit hängenden Schultern und tränengetränktem Gesicht. Ihre Ohren pfiffen dumpf. Wasser, sie wollte ein Glas Wasser. Der Weg zur Küche - er war lang. Rita stolperte, setzte mühevoll einen Fuß vor den anderen, apathisch und gelähmt. 
Sie sank über dem Tisch zusammen, das Wasser in der einen Hand, in der anderen ihr gesenkter Kopf. Vor ihr, in der Mitte des quadratischen Holztisches, lag ein Schlüsselbund - ein Schlüsselbund mit einem Autoschlüssel. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. In ihrer Vorstellung fuhr der Corsa mit einem perfiden Lachen von der Universität in ihren Vorort. Er fuhr schnell und waghalsig, wollte jede Ampel meiden, drängelte und hupte, hinterließ Bremsspuren auf dem Asphalt und Schäden in den Stoßdämpfern. Berechnend parkte sie ihn abseits, wollte ihre Schandtat verschleiern. Und dann ging wohl alles ganz schnell. Das Klingeln, das Begrüßen, das Ausziehen, der erste Kuss... Vor ihrem inneren Auge sah sie immer wieder die festen Brüste des Mädchens, ihre straffe Haut, ihr volles Haar, ihre Jugend.
"Rita!" Seine Stimme war brüchig. Hastig sprach er ihren Namen. Sie drehte den Kopf, sah ihn an. Noch nicht einmal angezogen war er. Ihre Augen sanken zu Boden. Mit einem Knall stand sie auf, der Stuhl fiel nach hinten. Sie griff nach dem Schlüsselbund, bestimmt, hart kalt. Mit festen Schritten ging sie auf ihn zu, fixierte ihn, der Blick starr. Er hielt stand, aber sie konnte das leichte Zittern seiner Knie aus den Augenwinkeln sehen. 
Vor ihm angekommen, trennten sie keine zehn Zentimeter mehr. Sie hob die Hand, der Schlüssel fiel klirrend zu Boden.
"Dieses Mal muss es eine von Chanel sein." Damit wandte sie sich ab und verließ die Wohnung, die ihr so fremd geworden war.